Als Kinder haben wir, also meine Schwester und ich, eine Zeit lang geglaubt, unser Vater selbst sei der Rabbithunter. Ein Spitzname vielleicht, oder etwas, in das er sich verwandeln könnte, wie ein Werwolf oder Bruce Wayne. Aber so war es nicht. Der Rabbithunter war tot. Er war bei einem Autorennen ums Leben gekommen. Sie müssen das öfter gemacht haben, nachts Wettrennen mit ihren Autos. Sie waren jung. Unsere Mutter war auch oft auf diesen Partys, bei denen zu vorgerückter Stunde einer aufstand und ein Autorennen forderte. Wenn es regnete, nannten sie es wetrace. Dann war es natürlich besonders gefährlich.
Ich stelle mir vor, wie mein Vater aufsteht und ruft: Los! Rabbithunter. Ein Wetrace!
Sie sind betrunken. Sie gehen zu ihren Autos. Die anderen haben Angst um sie.
Sie rasen mit 80 durch den Ort. Auf der Landstraße geht es über Busenberg, Vorderweidenthal, Lug, Hauenstein zur B10. In Hinterweidenthal driften sie in die B427. Sie fahren 150.
Sie kommen zurück und sind berauscht von der Gefahr. Dann trinken sie weiter wie besessen. Wir haben nie ein Foto von Rabbithunter gesehen. Alles, was meine Schwester und ich über ihn wissen, haben wir uns zusammengereimt.
Zum Beispiel, wie er mit seinem 700er BMW Kaninchen jagt. Wie er über das Stoppelfeld rast, wie sein Motor brüllt und wie er mit den Hinterrädern die lehmige Erde in hohen Bögen von sich schleudert.
Es war uns verboten, nach Rabbithunter zu fragen. Nicht einmal sein Name durfte ausgesprochen werden. Einmal äußerte Sarah den Verdacht, dass unsere Mutter ein Verhältnis mit ihm gehabt hatte und dass bei seinem letzten, tödlichen Rennen unser Vater und sonst niemand beteiligt war. Bis heute wissen wir nichts, aber dieser Rabbithunter hat uns eine Zeit lang sehr beschäftigt, meine Schwester und mich, und das aus gutem Grund.
Im Sommer gab unser Vater Einladungen, die im Garten stattfanden. Dann loderte da ein großes Feuer und die Gäste saßen an gedeckten Tischen auf der Wiese unter den Obstbäumen. Unsere Mutter rannte ums Feuer herum und häufte mit einer Holsteiner Schaufel Glut unter die Grillroste. Ihre Oberarme und Waden verrußten.
Manchmal trank unser Vater. Er trank dann große Mengen Bier.
Weißt du noch, Armin, brüllte er, damals nach dem Fußballturnier. Du und ich und Rabbithunter. Ich den Rabbithunter zum Wetrace aufgefordert und dann mit unseren BMW’s über die nasse Piste. Anschließend noch beim Rabbithunter auf dem Balkon mit Williams den Rest gegeben und dann die große Kotz-Session. War aber gut!
Und dann begann er mit den Kaninchenlebern. Er schrie über das Feuer und über die Gespräche seiner Gäste hinweg, wie köstlich Kaninchenleber doch sei. Wenn ihm schließlich alle ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten, dann beschrieb er den Geschmack so eindringlich, so süß und so bitter, bis seinen Gästen eine namenlose Gier in die Gesichter geschrieben stand und der Speichel in ihren Mundwinkeln funkelte. Das war der Moment, in dem er unsere Mutter hieß, jedem Gast eine Kaninchenleber zu servieren. Unsere Mutter fürchtete diesen Moment so sehr, dass sie nie auf ihn vorbereitet war. Es war ja auch nicht abzusehen, wann und ob überhaupt, unser Vater zu trinken und von Rabbithunter zu erzählen anfing.
Es waren natürlich nie so viele Lebern im Haus, wie Gäste im Garten saßen. Aber selbst die vorrätigen waren nutzlos, weil sie tiefgefroren im Keller lagen und unser Vater jetzt, vor den Auge der Gäste, am offenen Feuer frische Kaninchenleber zubereitet haben wollte. Das war nämlich der Clou bei der Sache: Dass die Leber ganz frisch war und am offenen Feuer kurz gebraten.
Da waren auf einmal mehrere Dutzend Kaninchenlebern gefragt.
Unser Kaninchenstall war weit von der Feuerstelle entfernt. Unsere Mutter musste aus der Wärme des Feuers hinaustreten und über die feuchte Wiese zu den Käfigen gehen. Wenn sie mit dem Schlagholz in der Hand unter die Überdachung trat, begannen die Tiere in den Boxen zu trommeln. Es stand da ein Hackklotz und um den herum waren sie aufgetürmt. Sie hob die Kaninchen an den Hinterläufen hoch und schlug ihnen die Keule ins Genick. Mit der Hakenklinge schlitzte sie ihnen den Bauch auf und riss die Lebern heraus. Die warf sie in eine Wanne, die Kaninchen in die Schubkarre.
Meine Schwester und ich bekamen das natürlich mit. Wir knieten nebeneinander auf Sarahs Bett und schauten durchs Fenster in den Garten. Wir wussten, dass unsere Mutter jetzt rufen würde. Voller Verzweiflung, Überdruss und Ungeduld schrie sie unsere Namen. Wir rannten hinunter. Immer rannten wir und trotzdem hieß es immer: Wo bleibt ihr denn?
Wir mussten nun die Schubkarre mit den toten Kaninchen zum hinteren Kellereingang bringen und sie zum Ausbluten in unserem Sandsteingewölbe auf eine Schnur hängen. Unsere Mutter blieb beim Hackklotz und bewachte solange die Lebern, denn der Blutgeruch lockte Räuber an. Hunde, Katzen, Krähen. Wenn wir mit unserer Arbeit fertig waren, übernahmen wir die Bewachung, damit sie ins Haus gehen und sich umziehen konnte. Sie brauchte nicht lange.
Wortlos hob sie sich dann die blaue Plastikwanne auf die Hüfte, kehrte zu den Gästen zurück, und wir sahen sie vor dem Feuer in ihrem hellen Kleid, wie sie die Lebern auf die Roste verteilte.
Irgendwann habe ich gehört, wie sie unseren Vater anflehte, diese Geschichte endlich sein zu lassen. Ich bitte dich inständig, sagte sie, lass mich doch endlich mit deinen Kaninchenlebern in Ruhe. Er antwortete mit bitterer Entschlossenheit: Wir beide sind es Rabbithunter schuldig, dass er nicht vergessen wird.
Sarah und ich haben uns einmal geweigert bei der Sache mitzumachen. Da waren wir 13 und 14. Wir knieten wie immer auf dem Bett und sahen unsere Mutter die Kaninchen aufschlitzen. Eines nach dem anderen, zwanzig Stück. Dann rief sie uns. Aber wir gingen nicht. Wir drehten uns vom Fenster weg und setzten uns auf den Boden vors Bett. Immer wieder rief sie uns. Dann hörte sie auf. Wir hörten ihre eiligen Schritte. Sie riss die Tür auf, stand vor uns in ihrem blutigen Kleid, hatte das Hakenmesser in der Hand. Wut und Ekel zerrten an ihrem Gesicht. Und Sarah schrie. Sie hielt sich die Fäuste vor den Mund und schrie und schrie. Sie schrie so, wie damals in der Kirche, als sie noch klein war, als die Orgel einsetzte, als sie durch nichts zu beruhigen war. Ich hatte schreckliche Angst. Ich warf mich auf sie, riss ihr die Fäuste vom Gesicht und brüllte sie an: Es ist vorbei. Immer wieder dieser Satz.
Und dann war es tatsächlich vorbei. Plötzlich war Sarah still. Plötzlich saß unsere Mutter neben uns. Sie hatte die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt, ihr Gesicht in die blutigen Handflächen gelegt und weinte.
Ich schaute aus dem Fenster auf die Kaninchenställe. Die Hunde waren schon da und fraßen das tote Fleisch. Ich sah unseren Vater vom Feuer herkommen. Dann stand er inmitten der Tiere und tat nichts. Er bewegte nur seinen Kopf hin und her. Als wäre es genug, den Kopf hin und her zu bewegen, um alles ungeschehen zu machen. Auch die Gäste näherten sich. Sie hielten aber Abstand. So genau wollten sie das gar nicht sehen. Dann gingen sie fort.
Es kam nie die Rede auf diese Nacht. All dies war ein für allemal vorbei.